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Die letzte Weihnachtsfeier 2007

Selbstverständlich erinnere er sich, so sei das eben bei alten Leuten: je größer der zeitliche Abstand, desto besser das Gedächtnis. Der alte Bibliothekar schob sich in seinem Sessel nach vorn „Doch fragen Sie mich nicht, was gestern war“, fuhr er fort, „ich hätte Mühe, es Ihnen zu sagen“. Wir saßen am Nachmittag eines Adventssonntages bei Tee und Plätzchen in seinem Wohnzimmer zusammen. Er hatte mich, den jüngeren Kollegen eingeladen – das heißt, eigentlich war es eher so, dass ich mich bei ihm eingeladen hatte, um ihm Fragen stellen zu können zu jener Weihnachtsfeier vor vielen Jahren. „Wann die war?“ Der alte Mann schloss die Augen und schwieg eine Weile. Schon dachte ich, dass er eingenickt sei, doch dann öffnete er die Augen wieder und sah mich an. „Das war, als ich gerade sechzig geworden war, vor dreißig Jahren also, kurz, bevor ich aufgehört habe zu arbeiten.“ „Und bevor ich in einer Bibliothek zu arbeiten angefangen habe“, ergänzte ich. Ich war beeindruckt. Da saß mir ein Mann gegenüber, dessen Arbeitsleben geendet hatte, als meines begann. Dabei kamen mir meine dreißig Jahre in der Bibliothek schon fast wie eine Ewigkeit vor.

Man habe damals beschlossen, die Weihnachtsfeier im Foyer der Bibliothek stattfinden zu lassen, weil dort bereits ein großer Christbaum aufgestellt war. Der war zwar nicht echt, hatte aber durch sein professionell gestyltes Grün und die darauf abgestimmten roten und goldenen Schmuckelemente eine positive Wirkung auf die Stimmung der Bibliotheksbesucher. Auf Anregung des Präsidiums hatte der Bibliotheksleiter nämlich nicht wieder wie in den Vorjahren einfach einen Tannenbaum durch den Hausdienst aufstellen lassen, sondern einem Absolventen des Studienganges Wirtschaftspsychologie die Möglichkeit geboten, einen solchen im Rahmen einer Bachelor-Arbeit zu konzipieren. Das Ergebnis war beeindruckend. Nicht nur die Lokalzeitung, selbst die überregionale Presse berichtete darüber und pries ihn als sichtbaren Beleg dafür, dass und wie sehr die Neuausrichtung der Universität gelungen sei. Lobend wurde zugleich hervorgehoben, dass dank neuester Leuchtdioden-Technik die Beleuchtung des Baumes sehr wenig Energie verbrauchte und eine überaus positive CO2-Bilanz vorweisen konnte. Es wäre von daher auch unverständlich gewesen, bei solchen Voraussetzungen die Weihnachtsfeier des Bibliothekskollegiums nicht im Foyer stattfinden zu lassen. Der alte Mann hielt einen Moment inne. Er lächelte ein wenig. „Ich sehe ihn noch, diesen Baum“, fuhr er dann fort, „wie er in seiner makellosen Schönheit in einer Ecke der Eingangshalle stand. Alle Bibliotheksbesucher waren begeistert von ihm. Schließlich wusste ja auch keiner von denen, dass er nur durch eine Konstruktion von hohlen Röhren aus Hartpappe aufrecht gehalten wurde. Die waren wirklich hervorragend kaschiert. Man hätte die Zweige weit auseinander biegen müssen, um sie zu sehen. Doch wer rückt schon einem Weihnachtsbaum auf die Pelle?“

Damals begannen die Studenten, wieder aktiver zu werden. Man engagierte sich für bessere Studienbedingungen. Er erinnere sich an Forderungen, berichtete der alte Bibliothekar, wie die nach uneingeschränkter Nutzung von Mobiltelefonen, die in allen Gremien diskutiert wurden, im Studentenparlament ebenso wie im Senat, der das Problem der Studienkommission übergab, die sich jedoch für nicht zuständig erklärte, worauf sich die Bibliothekskommission damit befassen musste Da dort keine Einigung erzielt werden konnte, entschied schließlich der Präsident. Das Telefonieren wurde allgemein erlaubt. Ein Verbot von Mobiltelefonen hätte der vom Präsidenten angestrebten, im Studium zu verwirklichenden Persönlichkeitsbildung bei den jungen Menschen entgegen gestanden. Es war dies zudem eine Entscheidung aus wirtschaftlichen Erwägungen. Wie sonst sollte man sich während eines Seminars über die oft rasch wechselnden Kursschwankungen seiner Aktien informieren können oder sich eine Pizza in die Bibliothek bestellen? So war es auch nicht überraschend, dass sich gleich zu Beginn der Weihnachtsfeier im Hörsaalgang vor der geschlossenen Glasfront zur Bibliothek Studenten protestierend versammelten, um ihren Unmut über die unzumutbaren Arbeitsbedingungen in der Bibliothek zu artikulierten. Auf Transparenten forderten sie, an den Arbeitsplätzen im Lesesaal das Naschen von Weihnachtsgebäck oder anderen Leckereien zu erlauben, wenigstens während der Adventszeit. „Wir wollen Dominosteine“ war zu lesen. Ja, sogar der Ausschank von Glühwein wurde gefordert. Aber als dann das Licht im Bibliotheksfoyer gelöscht wurde, und der illuminierte Baum den großen Raum mit friedvoller Stimmung füllte, da erlosch auch der studentische Protest. Die jungen Leute rollten ihre Transparente ein und gingen ihrer Wege.

Der Höhepunkt der Weihnachtsfeier war zweifellos der Auftritt des Präsidenten und seines Vize. „Sie müssen sich das vorstellen“, der alte Bibliothekar war sichtbar erregt, „als Rentiere verkleidete Mitarbeiter des Dezernats Hochschulentwicklungsplanung, wie sie einen goldenen Schlitten auf versenkten Rollen ins Foyer ziehen. Wirklich ein tolles Bild!“. In diesem goldenen Schlitten stand aufgerichtet der Präsident als Weihnachtsmann in einen roten Mantel mit weißen Besätzen gekleidet. Statt einer Mütze ließ er seine blonden Locken wallen. Einen Bart hatte er nicht angelegt, hätte dieser doch sein gewinnendes Lächeln verborgen. Neben ihm, in schwarzer Kluft, saß sein Vize mit grimmigen Gesicht als Knecht Ruprecht. Und während der eine mit ausgebreiteten Armen immer wieder „Ich verstehe euch, ich verstehe euch alle“ rief, grummelte der andere „Es besteht kein Anspruch, ein Anspruch besteht nicht“. Dann hielt der Präsident eine Ansprache. Er führte aus, dass man hochgesteckten Zielen entgegen strebe, dass diese kleine und bis zu seinem Erscheinen unbedeutende Hochschule nun auf dem Weg zu einer Spitzenposition sei und kontinuierlich im Ranking nach oben klettere. Dass er dafür keineswegs Dank erwarte, ließ er durchblicken, dass vielmehr er zu danken habe für die engagierte Mitarbeit, das er hoffe, auch weiterhin auf diese zählen zu können. Und da nun einmal Weihnachten sei, habe er allen etwas mitgebracht. Knecht Ruprecht öffnete einen Sack und entnahm ihm Schokoladenriegel, die er an die Bibliotheksmitarbeiter verteilte. Rotbraun verpackt waren sie und in gelber Schrift stand darauf zu lesen: Prophana-Riegel. Ungeduldig packten einige Kolleginnen sie gleich aus, bissen ab – und mussten feststellen, dass diese Riegel hohl waren.

Der Tee war ausgetrunken, die Plätzchen aufgegessen. Der alte Bibliothekar wirkte ein wenig erschöpft. Er rutschte im Sessel wieder ganz nach hinten, versank fast darin und schloss die Augen. „Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?“, wollte ich wissen. „Fragen Sie“, antwortete er, ohne die Augen zu öffnen, „eine Frage sei Ihnen noch zugestanden“. „Von welcher Bibliothek, welcher Universität haben Sie mir eigentlich erzählt?“ Die Antwort ließ auf sich warten. Schließlich schlug der alte Mann die Augen auf, sah mich kurz schweigend an. „Ach, die gibt es leider nicht mehr. Kennen Sie zufällig den großen Parkplatz am südlichen Stadtrand, wo Reisegruppen ihre Busse abstellen können? Dort, genau dort befand sie sich einst. Man hat sie dann irgendwann abgerissen, weil sie sowieso nur noch leer stand.“ „Meinen Sie etwa den Parkplatz mit diesem seltsamen Gebäude? Das mit den öffentlichen Toiletten …“ „Und mit der Touristen-Information. Das sollte einmal das Audimax werden. Ist nie zuende gebaut worden. Was fertig geworden war, das hat man stehen gelassen. Ja, genau da war diese Universität einmal.“

Autor: Rainer Pörzgen