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Kurz vor Feierabend... 2016

Stellen Sie sich eine Stadtbücherei vor, irgendeine, am besten eine, die Ihnen ver­traut ist. Ob sich diese in alten Gemäuern mit gotischen Gewölben befindet oder in einem funktionalen Neubau, das spielt für die Geschichte keine Rolle. Es muss nur in etwa so sein: Man kommt hinein und steht vor einer Ausleihtheke. Dahin­ter denken wir uns eine hübsche junge Frau, ja, hübsch und jung und anspre­chend muss sie sein, darauf bestehe ich – nicht etwa eine, die den immer noch gängigen Vorstellungen von einer Bibliothekarin entspricht, also weder mit streng nach hinten gekämmten Haaren, die in einen Dutt münden, noch mit Faltenrock. Und nun stellen Sie sich vor, dass es der späte Vormittag, fast schon Mittag eines 24. Dezember ist – Heiligabend! Sie wundern sich sicher, dass die Bücherei nicht geschlossen ist. Dafür gibt es einen Grund: Eine neue Leiterin ist eingestellt wor­den, und Sie wissen wohl, dass neue Besen gut kehren … nun ja, ich will nicht behaupten, dass die neue Leiterin ein Besen sei, aber sie hat eben wie so oft neue Leute neue Ideen, und eine dieser ist eben die, die Bücherei am Vormittag des 24. Dezember offen zu halten für all die, die inmitten des Trubels um letzte Weih­nachtseinkäufe einen Ort der Ruhe suchen, für die, die nicht wissen, wo sonst sie ihre Kinder lassen sollen, während sie noch das eine oder andere Geschenk für diese kaufen müssen, das am Abend dann so präsentiert werden wird, als habe es der Weihnachtsmann gebracht – ja, sogar auch für die, die sich noch schnell mit Lesestoff für die Feiertage versorgen möchten.

Nun braucht die junge Frau hinter der Ausleihtheke noch einen Namen. Zu gern gäbe ich ihr den der Schutzpatronin der Bibliotheken und Bücherfreunde, aber die Heilige hieß bedauerlicherweise Wiborada, und der Name scheint mir doch eine zu große Zumutung für eine junge, zudem hübsche Frau zu sein. Ich nenne sie einfach Anna, denn das war in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre der belieb­teste Mädchenname, womit zugleich ihr Alter festgelegt ist, wenigstens ungefähr.

Wo, wann, wer – das ist nun geklärt, wir können also in die Stadtbücherei und damit in die Geschichte eintreten.

Wer immer hinter einem solchen Tresen sitzt, dem geht – ob junge Kollegin oder ob alter Kollege – so manches durch den Kopf, insbesondere zu Zeiten wie an die­sem Vormittag. Wie es zu erwarten gewesen war, findet kein Mensch den Weg in die Bücherei. Dass das eine Schnapsidee war, das war allen Kolleginnen sofort klar, und sie waren auch alle dagegen gewesen, hatten argumentiert und gebe­ten, aber die neue Chefin hatte darauf bestanden, hatte sich durch nichts und niemand erweichen lassen, hatte sich doch der Leiter der Stadtverwaltung als ihr Vorgesetzter bereits von dieser Idee begeistert gezeigt – und als schließlich heraus war, wen es an dem Vormittag treffen würde, nämlich sie, Anna, und eine zweite Kollegin, die in der oberen Etage am Auskunftstisch sitzen muss, da war die Front der Ablehnung recht schnell auseinander gebrochen. Ja, die Davongekom­menen meinten plötzlich, der Idee durchaus etwas abgewinnen zu können, sie sei doch vielleicht gar nicht so schlecht, wenn man’s recht bedenke. Dahinter stand die Hoffnung, wenn nicht die Gewissheit, dass dieses Angebot nicht angenommen werden, dass es ein zweites Mal im kommenden Jahr also nicht geben würde, so dass man meinte, sich eine positive Einstellung dazu risikolos leisten zu können. Und so ist es nun auch gekommen. Die Menschen treiben an diesem besonderen Morgen andere Bedürfnisse um: Wer sich nicht zuhause einem späten und aus­giebigen Frühstück hingeben und den Tag in aller Ruhe angehen kann, der hetzt durch das Gewusel in den Geschäften der Stadt auf der Suche nach Zutaten für das Festessen und letzten Weihnachtsgeschenken. Anna sitzt unbeschäftigt her­um, die Zeitschriften der aktuellen Auslage hat sie lange schon alle durchgeblät­tert, hat hier und da ein kleines Stück gelesen, aber ihr Interesse vermochten die nicht lange zu halten. Bücher gibt es gewiss genug, aber sie mag sich keines aus den Regalen holen. Warum soll sie hier ein weiteres zu lesen beginnen, wo doch zuhause ein angefangenes spannendes auf sie wartet … hätte sie es doch bloß hierher mitgenommen! Sie blickt auf die Uhr, nur noch eine knappe Viertelstunde muss sie durchhalten. Das ist wirklich nicht mehr lange, das heißt, eigentlich ist es das, doch wenn die Zeiger sich wie festgerostet nicht weiterzubewegen schei­nen, dann mag einem eine solche Viertelstunde wie eine Ewigkeit vorkommen.

Da wird die Eingangstür aufgestoßen, ein Mann kommt herein und geht gleich zielstrebig auf sie zu. „Das hat mir gerade noch gefehlt“, geht es Anna durch den Kopf, und verärgert denkt sie daran, dass sie fast den ganzen Vormittag hier nur herumgesessen, nichts zu tun gehabt, sich gelangweilt habe, und dass jetzt, kurz vor Schluss, wenn sie gleich die Tür würde schließen können, noch einer kommt, der gewiss auch früher hätte kommen können. Sicher hat er tausend Fragen und abertausend Wünsche. „Das kann ja heiter werden, wer weiß, wann ich den wie­der loswerde“. Und was für ein Mann das ist, ein Alter mit strubbeligem Bart, in recht abgenutzter Kleidung, sein Mantel hat wahrlich schon bessere Tage gese­hen. Als er vor ihr steht, grüßt er Anna höflich, lächelt ihr freundlich zu und zieht aus einer seiner Manteltaschen einen Schokoladenweihnachtsmann, den er vor ihr auf die Ausleihtheke stellt.

„Ach“, sagt er bedauernd, „mit Bibliothekarinnen darf man leider nicht flirten.“

„Warum das denn nicht?“

„Weil man ihnen damit etwas von ihrer Aura nähme, sie aus ihrer Entrücktheit holte“, ist die merkwürdige Antwort. Anna muss gleich an ihre Kolleginnen den­ken: Aura? Entrücktheit? Davon hat sie bislang an ihnen noch nichts bemerkt … aber sie nimmt sich vor, im neuen Jahr darauf zu achten. Und lachend entfährt es ihr, fast unbedacht: „Ich bin doch gar keine Bibliothekarin!“

„O, das ist wirklich sehr schön“, erwidert der Alte, „dann möchte ich Sie um einen Kuss bitten“. Unsicherheit, ja, Angst steigen in Anna auf, ihr Kopf wird puterrot, ihre Bewegun­gen werden fahrig. „Ein Irrer“, denkt sie, „und ich bin hier allein!“ Aber sie sieht keine Chance, die Kollegin aus der oberen Etage herunterzurufen. Die Situation überfordert sie.

„Ich bitte um Verzeihung“, sagt da der Mann, „vielmals um Verzeihung, dass ich mich nicht klarer ausgedrückt habe. Selbstverständlich meinte ich nicht, dass Sie mich küssen sollen – o nein, welch eine Zumutung wäre das! – so etwas würde ich niemals verlangen.

Da nun kein anderer Mensch anwesend ist, will Anna wissen, nun wieder etwas ruhiger und auch mutiger geworden, wen sie denn seiner Meinung nach küssen solle.

„Na, ihn“, ist seine Antwort, und er zeigt auf den Schokoladenweihnachtsmann.

Ernsthaft zu erwarten, dass sie einen Schokoladenweihnachtsmann küsse, das findet Anna, sei nun doch arg, und ihre Meinung, es mit einem Verrückten zu tun zu haben, verfestigt sich. Wie sollte sie diesen hinhalten, bis die Kollegin end­lich herunter kommen wird – das kann doch nicht mehr lange dauern, es ist doch gleich Feierabend! Sie überlegt kurz, was zu tun sei und dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, dass es letztlich kein Risiko berge, einem Schokoladenweih­nachtsmann einen Kuss zu geben, dass es vielleicht lächerlich aussehe, aber ver­mutlich der einzige Weg sei, diesen Verrückten, der da freundlich lächelnd vor ihr steht, hinzuhalten, küsst sie die mit Stanniol umwickelte Figur.

Daraufhin wächst und wächst der Schokoladenweihnachtsmann, da ist nun kein Stanniol mehr zu sehen, sondern ein weicher roter Mantel mit weißen Borten, ein freundliches Gesicht taucht umrahmt von einem weiß wallenden Bart darüber auf, gekrönt von einer roten Mütze mit einer weißen Bommel – lebensgroß steht plötzlich der Weihnachtsmann über ihr auf der Ausleihtheke und lächelt zu ihr herunter. Anna schaut verwirrt zu ihm hinauf.

„Ho ho ho“, ruft der Weihnachtsmann, denn das rufen Weihnachtsmänner immer bei solchen Gelegenheiten (womit zudem erwiesen ist, dass dieser tatsächlich der Weihnachtsmann ist), „Du bist ein braves Mädchen, arbeitest sogar an diesem Tag. Das ist gut, sehr gut!“

Und an den alten Mann vor der Theke gewandt sagt er: „Hilf mir herunter, treuer Ruprecht, damit ich nicht vor der jungen Frau vom Tisch falle und auf den Boden stürze und so zur lächerlichen Figur werde.“

Der alte Mann reicht ihm die Hand, die der Weihnachtsmann ergreift und auf die­se Weise sicher geleitet von der Ausleihtheke herabsteigt. Er greift in seinen gro­ßen Sack und legt eine längliche, in buntes Papier eingeschlagene Schachtel vor Anna hin.

„Fröhliche Weihnachten!“, sagt er dazu, um sich dann laut „Ho ho ho“ dröhnend in die Bücherei zu begeben, um nachzuschauen, ob sich da nicht noch jemand aufhält, der zu beschenken sei. Knecht Ruprecht folgt ihm, den Sack über die Schulter geworfen. Anna ist zu verwirrt, um die beiden darum zu bitten, doch etwas leiser zu sein … warum auch, es war ohnehin kein Anderer da.

„Hallo, Anna, bist Du eingeschlafen?“. Die Kollegin, die längst oben alle Lichter gelöscht hat und heruntergekommen ist, rüttelt erst sanft, dann etwas kräftiger an Annas Schulter. „Feierabend, wir können endlich schließen!“

Anna hebt verdutzt den Kopf, reibt sich die Augen und blickt um sich. Da ist kein alter Mann im abgewetzten Mantel, da sind weder der Weihnachtsmann noch der Knecht Ruprecht. Sie muss tatsächlich geschlafen und das geträumt haben. Aber als sie vor sich auf den Tisch schaut, liegt da ein längliches, in buntes Papier eingeschlagenes Geschenk.

Autor: Rainer Pörzgen