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Der Bibliothekar als Leser 2014

„Haben Sie Musil gelesen?“

„Wer hat schon Musil gelesen?“, wich ich der Frage aus. Ich hatte Musil gelesen, mochte das aber nicht zugeben; irgendwie war mir das peinlich.

„Sollten Sie aber“, insistierte mein Gegenüber, der freundliche Herr B., ein häufiger Besucher der Bibliothek, der meine ausweichende Antwort falsch deutete, „sollten Sie wirklich, Sie als Bibliothekar. Da gibt’s eine großartige Bibliotheksszene …“

„Ja, ich weiß“, unterbrach ich ihn, wodurch ich mich nun doch offenbarte, „das hundertste Kapiel im Mann ohne Eigenschaften.“

„Genau das“, rief er begeistert aus – um dann leiser, wie vertraulich hinzuzufügen: „Doch sagen Sie, stimmt das wirklich … ich meine, dass Bibliothekare nicht lesen?“

Ach, die alte Geschichte! Schon zur Zeit meiner Ausbildung vor vielen Jahren kursierte der Spruch, dass ein Bibliothekar, der lese, verloren sei. Der muss irgendwie dem Musil zu Ohren gekommen sein. Schließlich hat der Mann auch einmal in einer Bibliothek gearbeitet. Dann hat er ihn leicht verändert in seinen Roman eingebaut. Sein Bibliothekar liest nicht, um die Übersicht zu behalten. Wer das Ganze im Auge behalten will, darf sich nicht in Details vertiefen, so ist in etwa seine Devise.

„Nun?“, hakte Herr B. nach, „lesen Bibliothekare oder lesen sie nicht?“

Meine erste Eingebung war, ihn mit allgemeinen Anmerkungen abzuspeisen, dass es immer und überall, in allen Berufsgruppen solche und solche gebe, aber das schien mir zu angreifbar zu sein, denn selbstverständlich gibt es berufsspezifische Gemeinsamkeiten – wie die, dass Dachdecker schwindelfrei sein oder Tischler keine zwei linken Hände haben sollten. Kurz überlegte ich sogar, ihn in eine Genderdebatte zu verwickeln, hatte er doch nur von Bibliothekaren gesprochen, und das bei einer Berufsgruppe, die ganz überwiegend, ja, fast ausschließlich weiblich besetzt ist … abgesehen von den Leitungspositionen selbstverständlich. Aber dann verspürte ich den Wunsch, ein wenig Spaß zu haben, und ich beschloss, ihm etwas zu erzählen.

„Diese Frage kann man nicht einfach mit ja oder nein beantworten“, antwortete ich und machte ein nachdenkliches Gesicht, „es handelt sich schließlich um einen ungeheuer komplexen Sachverhalt. Wissen Sie, wie viele verschiedene Bücher es gibt?“

Er wusste es selbstverständlich nicht, niemand weiß das, auch ich weiß es nicht; es ist auch völlig ohne Belang. Aber die Frage machte, wie ich sehen konnte, einen ungeheuren Eindruck auf ihn, gerade so, als vermittelte sie ihm ein Gefühl für die Bedeutung unseres zu erläuternden Themas.

„Über 100 Millionen“, sagte ich auf gut Glück.

Herr B. machte ein Geräusch, wie wenn Luft aus einem Luftballon entweicht. „Über 100 Millionen“, wiederholte er, „das sind viele.“

„Zu viele“, beschied ich ihn sofort, „viel zu viele“. Und ohne ihm Zeit für eine Erwiderung zu lassen, fuhr ich fort.

„Sie können aber sicher schätzen, wie lange man ungefähr braucht, ein Buch zu lesen … so von bis, schließlich gibt’s dicke und dünne Bücher, schwierig und leicht zu lesende, auch gibt’s schnelle und langsame Leser … genau kann man es also nicht sagen … aber klar ist doch, dass kein Mensch in seiner Lebenszeit alle Bücher lesen kann, ja, noch nicht einmal den relativ kleinen Teil, der sich in einer Bibliothek befindet.“

Er nickte schweigend.

„Wenn man nun nicht alles lesen kann, dann stellt sich doch zwingend das Problem der Auswahl – sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht.“

„Sowohl theoretischer als auch praktischer?“, wiederholte er fragend, offensichtlich irritiert.

„Aber gewiss doch! Fangen wir mit dem theoretischen Aspekt an. Schauen Sie auf diese Bibliothek, fast alle Sachgebiete sind darin vertreten, so dass es doch eine Frage von Bedeutung ist, ob der Bibliothekar nun von allen Gebieten wenige Bücher lesen soll oder von wenigen mehr. Das zu entscheiden ist schon sehr schwierig, denn eine Entscheidung für nur wenige bedeutet gleichzeitig die Vernachlässigung vieler anderer. Das wirft doch wissenschaftstheoretische Fragen auf! Mit welchem Recht entscheidet er sich für dieses und nicht für jenes? Haben sie unterschiedlichen Wert? Andererseits, liest er aus allen Wissensgebieten nur wenige Bücher, ergibt sich auch dabei das Problem einer Auswahl. Warum dieses Buch und nicht jenes? Hier werden schließlich ebenfalls wissenschaftstheoretische Fragen berührt, vor allem die der verschiedenen Ansätze und Schulen. Ist also eine Auswahl überhaupt vertretbar? Zudem führte ein solches Lesen doch bestenfalls zu einer breit angelegten Oberflächlichkeit. Wie man sie unserem Beruf ohnehin schon nachsagt!“

„Ja, aber …“, setzte mein Gegenüber an, doch ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Lassen Sie mich bitte erst meine Ausführungen fortsetzen. Denn nun will ich Ihnen den praktischen Aspekt erläutern. Der Bibliothekar liest also Bücher … wer sagt denn, dass nach diesen dann auch gefragt werden wird? Es gibt, wie wir eben bereits festgestellt haben, zu viele Bücher, nicht nur weltweit, sondern auch schon in dieser Bibliothek. Die Chance, dass der Bibliothekar ein Buch, nach dem gefragt wird, auch gelesen hat, ist gering, die Möglichkeit, dass er ein anderes gelesen hat, ist hingegen erheblich größer. Was wäre es aber für ein leichtfertiger Umgang mit vom Steuerzahler bezahlter Arbeitskraft, Bücher zu lesen, nach denen dann niemand fragt?“

„Ich weiß nicht“, sagte mein Gegenüber schüchtern, „ob man das wirklich so sehen kann.“ Ich hatte ihn verunsichert, aber noch nicht überzeugt.

„Ich will versuchen, Ihnen das an einem Beispiel zu verdeutlichen“, fuhr ich deshalb fort, „in wenigen Wochen ist Weihnachten. Nehmen wir also dieses Fest. Was glauben Sie, wie viele Bücher es zum Thema Weihnachten gibt?“

Herr B. wusste es nicht, ich wusste es nicht – wer sollte das wissen und warum!

„Zigtausende“, verkündete ich voller Überzeugung, „zigtausende, die sich mit allen möglichen Fragen rund um das Fest befassen, theologische, ökonomische, psychologische, soziologische, historische, praktische Bücher, ja, auch Kochbücher … ich hoffe, ich habe nichts vergessen. Was also tun? Befasst sich der Bibliothekar nun mit psychologischen und soziologischen Aspekten des Christfestes, muss doch gefragt werden, warum nicht mit theologischen oder ökonomischen. Was ist mit den Kochbüchern? Soll er die als Frauenbücher außen vor lassen, na, den Aufschrei möchte ich hören. Können Sie mir jetzt bei meinen theoretischen Ansatz folgen?“

Seine vor sich hin genuschelte Antwort war leider nicht zu verstehen.

„Und auch praktisch sind die Probleme doch offenkundig. Nehmen wir zum Beispiel an, der Bibliothekar habe ein Buch über Christbaumschmuck gelesen, und es werde nun auch nach einem Buch über Christbaumschmuck gefragt – wer sagt denn, dass es dasselbe Buch sein muss? Es gibt schließlich mehrere Bücher über Christbaumschmuck. So dass vielleicht der Bibliothekar ein anderes gelesen als das hat, nach dem gefragt wird.“

„Ich verstehe“, sagte er, obwohl sein Gesicht das genaue Gegenteil ausdrückte, „ ich verstehe, Sie meinen also, dass Bibliothekare nicht lesen, weil das ohnehin keinen Sinn ergibt …“.

„O nein“, unterbrach ich ihn, „so können Sie das wirklich nicht sagen. Selbstverständlich lesen wir, es wäre doch unvorstellbar, als Bibliothekar nicht zu lesen.“

„Ach ja“, stotterte Herr B., „interessant, ja, wirklich interessant … ich muss jetzt aber … frohe Festtage!“

„Frohe Festtage!“, rief auch ich ihm nach. Nein, wir Bibliothekare lesen tatsächlich nicht, aber das konnte ich ihm doch nicht sagen. Das ist ein Berufsgeheimnis. Wir haben schließlich einen Ruf zu verlieren, gelten wir doch als belesene, als gelehrte Leute. Erst neulich bin ich wieder im Videoverleih vorn an der Ecke gefragt worden, wie viele Bücher ich denn so in einer Woche lese. Da habe ich auch nicht eingestanden, dass ich gar nicht lese. „Och“, habe ich vielmehr gesagt, „das wechselt, mal so, mal so.“

Autor: Rainer Pörzgen