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Der Doktorand 2013

Serendipidität – das Wort ist weithin unbekannt, doch was sich dahinter verbirgt, das kennt so gut wie jeder Mensch, vor allem aber wir, die wir in den Bibliotheken arbeiten: Man sucht nach einem Buch, einer Zitatstelle, einer Information, findet vielleicht das, was man gesucht hat, stößt dabei jedoch auch auf etwas Anderes, das so sehr das eigene Interesse berührt, dass man vor allem überrascht ist, dass man es nicht gesucht hatte. Solche Entdeckungen sind wahre Schätze; ohne sie drehten wir uns immerzu im Kreise und gelangten niemals über unsere oft festge­fahrenen Gedankenbahnen hinaus. Sie weiten den Blick und führen uns auf neue Wege, sogar Leben können durch sie verändert werden. Ich selbst bin vor längerer Zeit einmal Zeuge einer solchen Entdeckung gewesen, man kann sogar behaupten, dass ich es war, der sie gemacht hat, aber die wunderbare zufällige Bedeutung, die hatte sie nicht für mich, sondern für einen jungen Mann.

Es war in der Vorweihnachtszeit, und der junge Mann war Doktorand. Ich habe diese jungen Menschen immer bedauert, die Jahre ihrer Jugend hingeben, um eine hunderte von Seiten umfassende Arbeit anzufertigen, die dann doch von nie­mandem gelesen werden würde – nicht einmal von ihren so genannten Doktorvätern oder auch nicht so genannten Doktormüttern, den betreuenden Professoren und Professorinnen, denen ihre Zeit zu schade ist für solche Lektüren, und die diese Arbeit schlecht bezahlten Hilfskräften übertragen, die sie dann desinteres­siert und entsprechend ihrer Entlohnung erledigen. Jener junge Mann arbeitete über irgendeinen Aspekt, ich habe vergessen, über welchen, im Frühwerk eines Schriftstellers, dessen Name mir leider ebenfalls entfallen ist. Wie war er über­zeugt von der Wichtigkeit seiner Arbeit: Sein Herzblut hing daran! Und nicht nur das – diese Überzeugung führte dazu, dass er einen so mitreißenden Tatendrang entwickelte, dem ich mich nicht entziehen mochte und konnte. Das führte schließlich dazu, dass ich ihn sogar in das Allerheiligste unserer Bibliothek mit­nahm, in das Magazin mit unseren Altbeständen.

Altbestände sind geeignet, Menschen zutiefst zu beeindrucken. Sie stehen davor, vor einer Regalwand aus Leder, Leinen und Staub, und fühlen sich klein ange­sichts dieses zu Papier gebrachten und hier versammelten Wissens der Welt. So erging es offentlich auch jenem Doktoranden. Noch bevor wir uns auf die Suche nach den von ihm gewünschten Büchern machten, ging bereits ein Leuchten über sein Gesicht, er strahlte geradezu vor Glück. Offensichtlich war er überzeugt, an einem besonderen, an einem heiligen, am richtigen Ort zu sein, von wo aus das Ziel seines wissenschaftlichen Strebens leicht zu erreichen sein würde. Ich muss allerdings zugeben, dass mein Verhältnis zu alten Büchern hingegen eher von ei­ner Art professioneller Abstumpfung geprägt ist – womit man tagtäglich konfron­tiert ist, das vermag einen irgendwann nicht mehr zu berühren, das ist bei Biblio­thekaren nicht anders als etwa bei Chirurgen oder Polizisten. Doch habe ich mir die Fähigkeit erhalten, dem Staunen Anderer Raum zu geben. Niemals hätte ich also den Doktoranden voran gedrängt … das war er selbst, den es trieb, aus dem sich ihm öffnenden Schatz seine speziellen Juwelen herauszusuchen. Wir fanden dann auch die gesuchten Bücher in den Regalen, seltsame, lange schon ungelese­ne, von deren Existenz ich bis dahin nichts geahnt hatte. Sein Glück schien voll­kommen zu sein. Weder an irgendwelche Titel noch an Namen von Autoren kann ich mich erinnern ­ aber eines werde ich nie vergessen, dass nämlich die Augen des jungen Mannes zu strahlen begannen, als ich eines nach dem anderen aus dem Regal zog, es aufschlug, ihm zeigte und nach seinem zustimmenden Nicken in seine aufnahmebereiten Arme legte. Buch auf Buch türmte sich da, und ich hatte Sorge, dass er gleich unter dem Gewicht in die Knie gehen würde. Er aber hielt sich wacker aufrecht.

Als sich auf seinen Armen bereits ein ansehnlicher Turm angesammelt hatte, entrutschte beim Aufschlagen eines weiteren Buches diesem ein kleiner Zettel und segelte sanft zu Boden. Ich stellte das Buch erst einmal ins Regal zurück, um den Zettel aufzuheben. Er war erkennbar älteren Datums, war bräunlich­gelb verfärbt und an den Rändern schon ein wenig brüchig. Ich überflog den darauf in Sütterlinschrift verfassten Satz, hielt dann den Zettel dem Doktoranden hin und fragte ihn, ob er das lesen könnte. Er konnte – ohne zu zögern und in einem Zug las er laut, was da geschrieben stand:

„ Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird zu leben“. „Ach ja, der lebenskluge Marc Aurel“, entfuhr es mir. „Den Zettel schenke ich Ihnen“, fuhr ich lachend fort. „nehmen sie ihn als ein kleines Weihnachtsge­schenk“.

Woraufhin ich das Buch aus dem Regal nahm, den Zettel wieder hinein legte und beides dem Bücherturm auf seinen Armen hinzufügte.

Wenig später verließ der junge Mann mit vielen Büchern im Arm und bereits in Gedanken versunken die Bibliothek, um sich während der bevorstehenden Feier­tage voller Eifer seiner Dissertation zuzuwenden. Meine guten Wünsche zu Weih­nachten und zum neuen Jahr mag er vielleicht schon gar nicht mehr gehört ha­ben.

Über die Feiertage und in der Zeit dazwischen, die man zutreffend als „zwischen den Jahren“ bezeichnet, war die Bibliothek geschlossen. Danach hatte ich mich heftig erkältet und litt unter Fieber und Schüttelfrost, so dass ich eine ganze Wei­le das Bett hüten musste. Als ich schließlich wieder meine Arbeit in der Biblio­thek aufnahm, erfuhr ich eher nebenbei, dass jener eifrige Doktorand gleich nach den Weihnachtsferien sämtliche entliehenen Bücher zurückgegeben habe und seitdem nicht mehr gesehen worden sei. Das ist nun schon einige Jahre her, aber seitdem schickt mir dieser inzwischen nicht mehr ganz so junge Mann in jedem Jahr eine Weihnachtskarte mit Grüßen auch von seiner Familie … und in jedem Jahr ist ein Name mehr aufgeführt.

Autor: Rainer Pörzgen